Predigt zu Silvester
Hoheslied 2, 8-13
Prediger: Gerhard Metzger, Pfarrer
Oberkrumbach/Altensittenbach, 31.12.2014
Liebe Gemeinde,
ich habe die Geschichte einer frommen Familie aus der Gemeinschaftsbewegung in Baden- Württemberg gelesen. Das war vor 40 Jahren. Jeden Morgen wurden um die 20 Kapitel Bibel laut gelesen. Der Großvater Hugo las vor. Eines Tages kommt er auch zum Buch des Hohen Liedes und liest folgende Verse aus dem 3. Kapitel: „Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur, und dein Mund ist lieblich. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden“. Da ruft die Großmutter völlig entrüstet hinein: „Hugo. Doch nicht vor dem Jungen! Ruhig und gelassen antwortet der Großvater: „Gertrud – das ist Gottes Wort“.
Es ist fast unbekannt. Dieses Buch der Bibel mitten in der Hl. Schrift. Ich habe darüber noch nie gepredigt. Es ist zunächst einmal eine Sammlung von Liebesliedern. Es ist Liebesdichtung. Es zeigt, dass die Liebe eine Atmosphäre braucht, die sie wachsen und gedeihen lässt. Es zeigt, dass Menschen von der Kraft diese Liebe leben. Es geht um Sehnsucht nach Intimität. Es geht um Leidenschaft. Es geht um die erste unvergessliche, verzehrende Liebe. Es geht um die geborgene Liebe, wenn man länger verheiratet ist. Das Hohe Lied ist ein Hoch auf die Liebe in all ihren Varianten. Eine Liebe, die Geist, Seele und Körper umfasst. Es geht darum, dem anderen ganz nahe zu kommen und erfüllt zu werden. Darin liegt ganz viel Sprengkraft. Der andere wird erkundigt mit seinem Körper, mit seinen Gedanken, mit seinen Geheimnissen und auch mit seinen Schwächen. Aber nur so wird er entdeckt als etwas ganz Besonderes.
Es geht also um Liebe und nicht um korrumpierte Körper, nicht um Frauen- und Männerkörper, die zu Werbezwecken ausgestellt werden. Vielleicht noch nach dem Tod wie in der Ausstellung „Körperwelten“ in Nürnberg. Ein Toter in Plastilin verpackt und gezeigt: Wie korrupt kann eine Gesellschaft sein, die das auch noch gut findet?
Ich habe gelesen, dass sich niemand erklären kann, woher es kommt, dass sich Menschen, die sich in Bewunderung und Hingabe als junge Menschen gefunden haben, immer noch respektieren und lieben, wenn sie älter geworden sind. Nacht für Nacht verbringen sie nebeneinander und nur noch die Bettritze ist zwischen ihnen. Wie oft habe ich aber auch schon das Gegenteil erlebt: Ein Ehepaar hat Kinder. Sie ziehen diese auf. Dann sind die Kinder weg und das Paar ist plötzlich mit 55 Jahren allein. Es kommt zur Trennung. Sie merken, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. Sie haben vor lauter Kinder verlernt, ihre Ehe zu gestalten und zu intensivieren. Dann höre ich: „Jetzt wo die Kinder weg sind, hätten wir es doch schön. Und jetzt trennen wir uns“! Ich gebe jedem neu verheirateten Ehepaar den Rat: „Der Ehepartner steht an erster Stelle, dann kommen die Kinder“.
Aber natürlich kommt das immer wieder vor: Dass Paare sich trennen. Und da ist es wichtig, nicht mit dem moralischen Zeigefinger zu kommen. Im Gegenteil: Jeder kann wieder eine neue Chance bekommen. Und ich kenne viele Paare, die bei der zweiten Trauung sehr glücklich geworden sind. Sie können dafür wirklich sehr dankbar sein.
Ich habe folgende mir sehr nahegegangene Gedanken gelesen: „Der Ernstfall der Liebe ist nicht ihr Scheitern. Der Ernstfall der Liebe ist ihr Gelingen. Denn eine Liebe, die bis zum Ende des Lebens währt, muss sich mit dem Tod messen. Denn sie muss den Tod des Geliebten bestehen. Die Geduld am Ende des gemeinsamen Lebens erträgt das Verwelken des Geliebten, erträgt Falten und Wülste, das Vergesslichwerden, das gemeinsame Langsamwerden. Sie erträgt die Gebrechlichkeit und den Rollator. Schließlich erträgt sie das Schlimmste, nämlich dass der andere stirbt und Untröstlichkeit zurücklässt“.
Meine Mutter wird im Februar 80, mein Vater wird 82. Wenn wir zusammen kommen, dann höre ich immer wieder den Satz: „Hoffentlich können wir noch lange zusammenbleiben, dann ist der andere nach dem Tod des einen nicht zu lange allein“.
Vor einem Jahr stand ich hier auf der Kanzel. Vielleicht erinnert sich mancher an meine Worte. Ich habe wörtlich gesagt: „Unser Simon stand mit einem Bein in der Ewigkeit“. Ein Jahr später ist dies eingetreten. Und die Predigt heute ist für mich eine sehr große Herausforderung. Denn wenn ich jetzt auf dieses Jahr zurückblicke, dann ist da ganz viel Trauer in mir. Und ich weiß nicht so recht, was ich denken soll. Da hilft mir, dass dieses Bibelbuch, das Hohelied, natürlich auf Gott übertragen werden kann und muss. Dort wo der Geliebte steht, sehe ich Gott. Da merke ich: Er ist auf dem Weg zu mir in seiner unendlichen Liebe. Die Stimme meines Freunds, das ist die Stimme Gottes, die in Jesus konkret geworden ist. Er hüpft über die Berge. Da wird deutlich, dass es mehr gibt als dieses Leben auf dieser irdischen Welt. Gott kommt zu mir und will mir neue Freude schenken, die sich in einem Reigen zeigt und mit einem jungen Hirsch und eine Gazelle verglichen wird.
„Steh auf, meine Freundin, meine Schöne“. Gott nimmt mich an der Hand und hilft mir hoch. Vor allem auch: die Winterzeit vergeht, der Frühling ist im Anmarsch. Also: Trauer wird überwunden auch dann, wenn sie vielleicht nie ganz verschwinden wird. „Die Blumen sind aufgegangen im Land, der Lenz ist herbeigekommen“. Liebe und damit auch meine Beziehung zu Gott lässt sich eben vor allem in poetischer Sprache beschreiben.
Aber jetzt gilt auch für mich und für meine Frau das, was für alle Liebende gilt: die Liebe muss sich bewähren. Nach dem Tod eines geliebten Menschen kommt es am Ende eines Jahres zum Treueschwur gegenüber Gott. Was ist der Glaube wert? Darauf kommt es an: Den Glauben an Gott nicht verlassen trotz des Abschiedsschmerzes, die Liebesbeziehung zum himmlischen Vater nicht einseitig lossagen und ihm auch noch Vorwürfe machen.
Liebe bewährt sich in schwierigen Zeiten. Liebe wird stark durch harte Zeiten des Lebens. Jetzt heißt es für uns wie für jeden Menschen, der durch solche Lebensphasen geht: Fest halten an dieser Liebe, die stärker ist als der Tod. Das Lied der Liebe Gottes zu uns singen. Zu Gott kommen, der hier ruft: „Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her“.
Für die Juden ist das Buch des Hohenliedes der Lesetext an ihrem höchsten Feiertag, dem Jom Kippur. An diesem Tag wenden sich die frommen Juden an Gott in besonderer Art und Weise und bitten um Vergebung. Mit der Lesung zeigen sie: Gottes Liebe ist stärker als meine Schuld. Rabbi Akiba hat einmal gesagt: „Alle Zeiten sind nicht dem Tag ebenbürtig, an dem Israel das Hohelied verliehen wurde, denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das heiligste von allen“.
Amen