Tägliche Gedanken in einer schwierigen Zeit, heute von Dekan Jörg Sichelstiel
5 Wünsche für die Welt danach
1. Keine Rückkehr zur Normalität. Der so oft vorgebrachte Wunsch auf Rückkehr zur Normalität unterstellt, dass es früher besser oder gar in Ordnung gewesen wäre. Wir wissen alle, dass das nicht stimmt. Ich brauche nur an die Diskussionen zum menschengemachten Klimawandel, zum wachsenden Antisemitismus und zum Rechtsterrorismus zu erinnern. Die jetzt angekündigten „Lockerungen“ entwickeln bereits eine Dynamik hin zu einem Weiter-so-wie früher, die mir verhängnisvoll erscheinen.
2. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das vermeintlich starke globalisierte Wirtschaftssystem hat sich als äußerst anfällig und schwach erwiesen. Produktionsausfälle an einem Ort der Welt und zusammengebrochene Lieferketten haben Alarm ausgelöst. Zu viele Infizierte, Krankgeschriebene oder Sterbende kann sich kein Wirtschaftssystem und kein Staat leisten. Die Legitimationsbasis verflüchtigt sich, wenn der Staat nicht mit allen Mitteln eingreift, damit nicht noch mehr Tote mit Lastwägen abtransportiert werden. Dadurch rückten die „schwachen Berufe“ in den Fokus der Aufmerksamkeit – Berufe, die überdurchschnittlich von Frauen ausgeübt werden. Das gilt für die Pflege, aber genauso für die Verkäuferinnen. Sie wurden systemrelevant. Ihre Kraft hält und trägt. Stärke und Schwäche haben den Platz gewechselt – zumindest eine Zeitlang in der öffentlichen Wahrnehmung. Mein Wunsch: Dass diese Erkenntnis Konsequenzen haben muss, auch in Form besserer Bezahlung und besserer Arbeitsbedingungen.
3. Zukunftsorientierter Neustart mit Nachhaltigkeit statt „Wiederhochfahren“. In diesen Komplex gehört das verhängnisvolle Wort vom „Wiederhochfahren“ der Wirtschaft. Der durch Corona erzwungene Stopp sollte zu einer Zäsur werden. Corona ist kein sog. „Black swan“, also kein unvorhersehbares Ereignis außer der Reihe, sondern es wird sichtbar und spürbar, was durch die sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und technologischen Dynamiken und der rapiden Verschlechterung der globalen Umweltsituation ausgelöst wird. Es gibt einen elementaren Zusammenhang zwischen Tier-, Umwelt- und menschlicher Gesundheit. Konsequenter Klima- und Artenschutz bedeuten auch effektiven Gesundheitsschutz. Es braucht eine echte Weiterentwicklung von Energie-, Ernährungs- und Verkehrswende. (vgl. Der Schock hat System, SZ 15.4.2020, S. 9)
4. Buße als Normalität. Martin Luther hat in seiner ersten der 95 Thesen geschrieben, dass das ganze Leben Buße sein soll. Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen Bußfragen aufgebracht, Fragen nach Umkehr, Schuld, Neuorientierung. Das Gesundheitswesen wurde lange Jahre mit falschen Zielvorgaben gesteuert. Schmerzhaft stellen wir fest, dass Schutzausrüstung fehlt. Die kleinen Krankenhäuser werden gebraucht, sterben aber reihenweise den Finanztod. Das sind nur einige Beispiele aus einem Bereich. Es betrifft auch Privates. Das Leben ist von Terminen und Freizeitstress geprägt. Corona zwingt zur Auszeit. Nachbarschaften werden neu entdeckt. Hilfsbereitschaft wächst.
5. Den Buß- und Bettag wieder einführen, mit neuem Namen: Tag der Umkehr oder Zukunftstag. Der Buße als Normalität entspricht, dass der Buß- und Bettag als gesamtgesellschaftlicher Umkehrtag neues Gewicht gewinnt. Der Name sollte ein in der pluralen Gesellschaft akzeptierter sein. Als evangelische Kirche werden wir ihn mit Gottesdiensten und Buße und Beichte feiern und unseren Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog leisten. Der Tag könnte Umkehrtag oder auch Zukunftstag heißen, denn es soll um eine bessere Zukunft gehen.