Tägliche Gedanken von Pfr. Gerhard Metzger in einer schwierigen Zeit
Was das Wort Masern in mir auslöst!
Es ist der 21.08.1968. Also heute vor genau 52 Jahren. Es ist ein heißer Tag, ein Mittwoch. Ich liege seit fast einer Woche krank im Bett. Auch wenn ich gerade mal 10 Jahre alt bin, habe ich unruhige Gedanken in mir. Die Getreideernte ist im vollen Gang. Da werden auf dem Hof alle Hände gebraucht. Von früh bis spät wird gedroschen. Stroh muss eingefahren werden. Daneben die normale Stallarbeit am Morgen und am Abend. Im Hof stehen zwei große Fuhren mit Stroh. Dann auch noch zwei Anhänger voll von Getreide.
Und ich liege im Bett! Tatsächlich hatte ich damals gedacht: Der Hof bricht zusammen, weil ich nicht helfen kann. Auch meine beiden jüngeren Geschwister liegen krank im Bett. Wie soll das alles funktionieren? Ich habe Masern. Jetzt im Jahr 2020 ist das vielleicht ein Glück. Denn wenn im Herbst die Schule beginnt, muss jeder Pädagoge nachweisen können, dass er kein Masernüberträger ist. Ich gehöre zu der Generation, die diese Masern als Kinderkrankheit durchgemacht hat.
Plötzlich am Nachmittag höre ich Schritte auf der Treppe. Ich weiß sofort: Mein Vater schaut nach mir. Er macht die Tür auf, tritt herein und setzt sich ans Bett. Seine ersten Worte waren: „Gerhard, ich glaube es gibt jetzt den dritten Weltkrieg“. Dann ein paar Erklärungen und natürlich auch die Frage nach meinem Gesundheitszustand. Ich sage noch: „Schafft ihr die Arbeit alle?“ „Ja, das schaffen wir schon“. Dann ist er wieder an die Arbeit gegangen.
Was war geschehen? An diesem Tag sind die Truppen der Warschauer Paktstaaten in die damalige CSSR einmarschiert und haben vor allem Prag besetzt. Und damit wurde der sog. „Prager Frühling“ beendet. Keiner wusste an diesem Abend so wirklich, wie wohl die NATO-Staaten reagieren würden. Sie setzten die Armeen in Alarmbereitschaft, aber sie griff nicht ein. Es wurde besonnen gehandelt. Das Jahr 1968 war mit den sog. Studentenunruhen sowieso schon laut und schrill genug.
Heute weiß jeder, dass diese Besonnenheit viel Schlimmes verhindert hat. Der sog. „Eiserne Vorhang“ ist dennoch gefallen, wenn auch erst gut 20 Jahre später. Aber in mir spüre ich bis heute so ein komisches Gefühl um dieses Datum herum. Dieses Angstgefühl kommt auch heute in mir hoch. Denn einen Krieg konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. Und dieses Gefühl, dass von mir „der Hof abhängt“ zeigt im Nachhinein, dass Kinder in der Landwirtschaft nicht nur körperlich gefordert waren, sondern dass sie wohl oft genug auch zu viel Verantwortung im Herzen mitgetragen haben.