Tägliche Gedanken von Pfr. Gerhard Metzger in einer schwierigen Zeit
Der Lumpensammler – Teil 2
„Lumpen! Lumpen! Ich sammle alte Lumpen!“ rief der schluchzende, blutende, starke, so klug aussehende Lumpensammler. Inzwischen stach die Sonne vom Himmel, blendete meine Augen. Der Lumpensammler schien es immer eiliger zu haben. „Gehst du zur Arbeit?“ fragte er einen Mann, der an einem Telefonmast lehnte. Der Mann schüttelt den Kopf. „Hast du denn keine Arbeit?“ hakte der Lumpensammler nach. „Bist du verrückt?“ gab der andere höhnisch zurück. Er stieß sich von dem Mast ab, so dass man seinen rechten Jackenärmel sah – er war plattgedrückt, und die Manschette steckte in der Tasche. Er hatte keinen Arm. „So“, sagte der Lumpensammler. „Gib mir deine Jacke, und ich gebe dir meine“. Mit welcher Bestimmtheit er das sagte! Der Einarmige zog seine Jacke aus. Das gleiche tat der Lumpensammler – und ich erschauerte bei dem Anblick: Der Arm des Lumpensammlers blieb in seinem Ärmel, und als der andere die Jacke anzog, hatte er zwei gute Arme, kräftig wie Äste; der Lumpensammler dagegen hatte nur noch einen. „Geh zur Arbeit“, sagte er.
Danach fand er einen Betrunkenen, der bewusstlos unter einer dünnen Decke lag, einen alten Mann, gekrümmt, runzelig und krank. Er nahm die Decke und legte sie sich um die Schultern, doch für den Betrunkenen ließ er neue Kleider zurück. Und nun musste ich rennen, um mit dem Lumpensammler Schritt halten zu können. Obwohl er hemmungslos weinte, seine Stirn in Strömen blutete und er seinen Karren mit einem Arm ziehen musste, vor Trunkenheit stolpernd, immer wieder fallend, erschöpft, alt, alt und krank, lief er ungemein schnell. Er hastete durch die Gassen der Stadt, eine Meile und dann noch eine, bis er die Grenzen erreichte, und dann eilte er weiter. Ich musste darüber weinen, wie sehr dieser Mann sich verändert hatte. Seine Not schmerzte mich. Und doch musste ich herausbekommen, wo er so eilig hinwollte – vielleicht um zu erfahren, was ihn so sehr antrieb.
Der kleine Lumpensammler – er kam zu einer Müllhalde. Er kam zu den Abfallgruben. Und dann wollte ich ihm bei dem helfen, was er tat. Aber ich bleib zurück und versteckte mich. Er stieg auf einen Hügel. Unter qualvollen Mühen räumte er eine kleine Fläche auf der Kuppe frei. Dann seufzte er und legte sich nieder. Seinen Kopf bettete er auf ein Taschentuch und eine Jacke. Seinen Körper bedeckte er mit der dünnen Decke. Und er starb. Oh, wie ich weinte, als ich sein Sterben mit ansah! Ich ließ mich in eines der Schrottautos fallen und jammerte und klagte wie einer, der keine Hoffnung hat – denn in mir war eine tiefe Liebe zu dem Lumpensammler erwacht. Jedes andere Gesicht war mir angesichts des Wunders dieses Mannes verblasst, und er war mit kostbar geworden. Doch nun war er tot. Ich schluchzte, bis ich in Schlaf fiel. Ich wusste nicht – woher hätte ich es wissen sollen? – dass ich die ganze Nacht und auch den Samstag und die nächste Nacht durchschlief.
Doch dann, am Sonntagmorgen, wurde ich durch ein lautes Getöse geweckt. Licht – reines, hartes, forderndes Licht – prallte auf mein trauriges Gesicht, und ich blinzelte und blickte auf. Und ich sah das letzte und das erste Wunder von allen. Dort stand der Lumpensammler und faltete sorgfältig die Decke zusammen. Er hatte eine Narbe auf der Stirn, doch er lebte! Und er war gesund! Von Not oder Alter war ihm nichts anzumerken, und all die Lumpen, die er gesammelt hatte, leuchtete schneeweiß und rein. Da senkte ich meinen Kopf, und erschauernd über all das, was ich gesehen hatte, ging ich auf den Lumpensammler zu. Voller Scham nannte ich ihm meinen Namen, denn neben ihm war ich nichts als eine erbärmliche Gestalt. Dann warf ich an Ort und Stelle alle meine Kleider ab und sagte voller Sehnsucht zu ihm: „Bekleide mich“. Und er bekleidete mich. Mein Herr, er legte mir neue Kleider an, und ich bin ein Wunder neben ihm. Der Lumpensammler, der Lumpensammler, der Christus!