Wenn Corona will, steht (endlich ein bisschen) weniger still, Update 391 vom 10.04.2021

Tägliche Gedanken von Pfr. Gerhard Metzger in einer schwierigen Zeit

Der Lumpensammler – Teil 1

Morgen feiern Christen den sog. „Weißen Sonntag“. Im liturgischen Kalender steht er unter dem Namen „Quasimodogeniti“. Dieser lateinische Name heißt übersetzt ungefähr „Wie die neugeborenen Kinder“. Der Name geht darauf zurück, dass in der Alten Kirche viele in der Osternacht getauft worden sind. Sie haben dann eine Woche lang ein weißes Kleid als Zeichen dafür angezogen, dass sie Jesus als Herrn ihres Lebens auch öffentlich bezeugt haben. Am darauffolgenden Sonntag haben sie dieses Kleid wieder ausgezogen. Wegen dieser Tradition ist der Tag vor allem als „Weißer Sonntag“ bekannt. Noch viele Kirchengemeinden – wie auch wir hier in Altensittenbach – feiern an diesem Sonntag in Nicht-Coronazeiten das Fest der Konfirmation. Vor einem Jahr habe ich darüber von vielen Sitten u.a. auch in meinem Heimatdorf Habelsee geschrieben (Updates Nr. 32 – 36). In diesem Jahr fiel mir ein ganz besonderer Text in die Hand, den ich heute und morgen als Update weitergeben will. Besonders der Schluss beschreibt sehr schön, dass Jesus mich auf eine ganz besondere Art und Weise bekleiden kann. Die Geschichte trägt den Namen „Der Lumpensammler“ und stammt von Walter Wangerin jr.

An einem Freitagmorgen, noch vor der Dämmerung, bemerkte ich einen gutaussehenden, starken jungen Mann, der durch die Straßen unserer Stadt ging. Er zog einen alten Karrern voller bunter neuer Kleider und rief mit klarer heller Stimme: „Lumpen!“ Ah, beim Klang dieser süßen Musik schmeckte die Luft faulig, und das erste Morgenlicht schimmerte trüb. „Lumpen! Neue Lumpen für eure alten! Ich nehme eure zerschlissenen Lumpen! Lumpen!“ „Wie seltsam“, dachte ich, denn der Mann war einen Meter neunzig groß, und seine Arme wie Äste, hart und muskulös, und seine Augen leuchteten wach und klug. Konnte er keine bessere Arbeit finden, dass er als Lumpensammler durch die Innenstadt ziehen musste? Ich folgte ihm. Meine Neugier trieb mich an. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Bald sah der Lumpensammler eine Frau auf ihrer Hintertreppe sitzen. Sie schluchzte in ihr Taschentuch, seufzte und vergoss tausend Tränen. Ihre Knie und Ellbogen bildeten ein trauriges X. Ihre Schultern zitterten. Ich sah, dass ihr das Herz brach. Der Lumpensammler hielt seinen Karren an. Leise stieg er über Blechdosen, zerbrochene Spielzeuge und Windeln auf die Frau zu. „Gib mir deinen Lumpen“, sagte er sanft, „und ich werde dir ein neues Tuch geben“. Er zupfte ihr das Taschentuch von den Augen weg. Sie blickte auf, und er legte ihr ein leinenes Tuch auf die Hand, so rein und neu, dass es leuchtete. Sie blinzelte und sah von der Gabe zu dem Geber auf. Dann, als er wieder seinen Karrern zu ziehen begann, machte der Lumpensammler etwas Merkwürdiges: Er legte sich ihr verschmiertes Taschentuch vor sein Gesicht. Und dann begann er zu weinen und mit bebenden Schultern ebenso bekümmert zu schluchzen, wie sie es getan hatte. Sie jedoch blieb ohne Tränen zurück.

Das ist ein Wunder“, flüsterte ich bei mir selbst, und ich folgte dem schluchzenden Lumpensammler wie ein Kind, das sich von einem Geheimnis nicht mehr losreißen kann. „Lumpen! Lumpen! Neue Lumpen für eure alten!“ Nach kurzer Zeit, als der Himmel grau zwischen den Dächern hin durchzuschimmern begann und ich die zerschlissenen Vorhänge vor den schwarzen Fenstern erkennen konnte, begegnete der Lumpensammler einem Mädchen mit leeren Augen, dessen Kopf in einen Verband gehüllt war. Der Verband war blutdurchtränkt. Blut rann über ihre Wange. Der große Lumpensammler betrachtete das Kind voller Mitleid und holte eine hübsche gelbe Mütze vor seinem Karren. „Gib mir deinen Lumpen“, sagte er und streichelte ihre blutverschmierte Wange, „und ich werde dir meine geben“. Das Kind konnte ihn nur anstarren, während der den Verband löste, abnahm und sich um seinen Kopf band. Die Mütze setzte er auf ihren Kopf. Und ich sperrte den Mund auf, als ich es sah: Mit dem Verband war auch die Wunde verschwunden! Auf seiner Stirn quoll nun dunkles schweres Blut – sein eigenes!

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